Der Risikoausgleich ist ein Kernelement in der Finanzierung der gesetzlichen Kranken­versicherung in Deutschland – und beeinflusst maßgeblich die Finanzlage einzelner Krankenkassen und den Wett­bewerb insgesamt. Doch wie ist der Risikoausgleich in seiner heutigen Form eigentlich zustande gekommen?

Ein erster Risikoausgleich in der GKV wurde im Rahmen des Gesundheitsstruktur­gesetzes (GSG) Anfang der 90er Jahre eingeführt. Die Einführung war Teil eines politischen Maßnahmen­paketes, das 1992 ausgehandelt wurde und nach seinem Verhandlungsort als „Lahnstein-Kompromiss“ in die Geschichte des deutschen Gesundheitswesens eingehen sollte. Zuvor hatte es bereits mehrere große Reform­gesetze für die Gesetzliche Krankenversicherung gegeben – mit dem Ziel, die steigenden Kosten der Gesundheitsversorgung zu begrenzen. Diese sogenannten Kosten­dämpfungsmaßnahmen erzielten aber zumeist nur kurz­fristige Erfolge, sodass in den 80er-Jahren die Ausgaben der Kranken­versicherung in der Bundes­republik – wie in vielen anderen entwickelten Volkswirt­schaften – weiter dynamisch stiegen.

Wettbewerbselemente sollten Anreize zur Steigerung von Effizienz liefern

In der Folge dieser Entwicklungen gewann zunächst in der Wissenschaft und später auch in der Politik die Idee immer mehr Befürworter, durch die Einführung von Wettbewerbselementen in das Krankenversicherungssystem Anreize zur Steigerung der Effizienz zu schaffen:

  • Das Gesundheitsstrukturgesetz griff Wettbewerbsideen für die GKV durch die Einführung eines Kassenwahlrechts in Verbindung mit einem Risikoausgleich auf, der ursprünglich auf demografische Variablen und versicherungsrechtliche Statusmerkmale beschränkt war.
  • Die zum Risikoausgleich genutzten mathematischen Modelle werden auch als Risikoadjustierung bezeichnet.
  • Darunter wird die Nutzung von Informationen auf Patientenebene zur Erklärung von Variation der Leistungsausgaben, der Inanspruchnahme von Versorgungsleistungen oder von Versorgungsergebnissen verstanden.

„Prediction Models“ und „Payment Models“

Die Nutzung der Modelle ist nicht allein auf Finanzierungsfragen beschränkt. So lassen sich „Prediction Models“ und „Payment Models“ unterscheiden. Ihnen ist gemeinsam, dass sie die Wirkung bestimmter Faktoren auf Ergebnisvariablen abbilden bzw. adjustieren.

  • Prediction Models eignen sich u. a. zur Überwachung der Qualität in Versorgungsprozessen, im Fall- oder Disease-Management oder auch zum Controlling im Vertragsmanagement.
  • Ihre Funktion ist, die Ergebnisse solcher Maßnahmen um den Einfluss von Merkmalen der Patienten zu bereinigen und dadurch überhaupt erst die Möglichkeit zu schaffen, Qualität und Kosten der Maßnahmen zu bewerten.
  • Ohne Risikoadjustierung würden Patientenmerkmale die Evaluation der Ergebnisse eines Versorgungsprogramms erschweren oder sogar unmöglich machen.
  • Payment Models stellen eine spezielle Form der Risikoadjustierung dar, deren Entwicklung sich aus der Notwendigkeit ergibt, Mechanismen für die Zuteilung von Finanzmitteln in Gesundheitssystemen zu nutzen.
  • Sie kommen in wettbewerblichen Gesundheitssystemen zum Einsatz, in denen Konsumenten die Wahl zwischen verschiedenen Krankenversicherungen (bzw. Versorgungsprogrammen) haben.
  • Ihre Entwicklung ist daher eng verwoben mit der Etablierung wettbewerblicher Elemente in den Krankenversicherungssystemen vieler westlicher Länder und den dabei beobachteten Strukturveränderungen in Versichertenpopulationen.

Die Bedeutung der Risikoadjustierung

Ohne Risikoadjustierung¹ kommt es in wettbewerblichen Systemen zur Entmischung von Risiken zwischen Krankenversicherungen durch sogenannte adverse Selektion der Versicherten. Das heißt: Versicherer sind durch Wettbewerb dazu gezwungen, Prämien bzw. Beiträge so zu kalkulieren, dass sie die erwarteten Kosten ihrer Versichertenpopulation (ggf. abzüglich anderer Finanzierungsquellen wie staatlicher Zuschüsse) decken. Gleichzeitig wählen Individuen mit niedrigen gesundheitlichen Risiken Versicherungen mit günstigen Beiträgen und geringerem Leistungs­umfang, während Versicherte mit höheren gesundheitlichen Risiken und daraus resultierenden erhöhten zukünftigen Versorgungsbedarfen entsprechend ausgestattete und damit teurere Versicherungsangebote wählen. Dies zieht weitere strukturelle Veränderungen in den Versichertenpopulationen der im Wettbewerb stehenden Krankenversicherer nach sich, was wiederum die erwarteten Kosten in der Population durch Zuwanderung hoher bzw. niedriger Risiken weiter verändert und daher zur Neukalkulation von Versicherungsbeiträgen führen muss.

Ohne weitere Korrekturmaßnahmen würden sich die Risikostrukturen und in der Folge die Versicherungs­prämien bzw. Beiträge der im Wettbewerb stehenden Krankenversicherer immer weiter auseinanderentwickeln.

Eine solche Entwicklung wirft Fragen zur Effizienz und Gerechtigkeit auf. Risikoäquivalente Beiträge und damit verbundene Beitragsdifferenzen für die Versicherten werden in der GKV durch gesetzliche Regelungen zur Erhebung von Beiträgen verhindert. Der individuelle finanzielle Beitrag zur eigenen Gesundheitsversorgung soll nicht von Faktoren wie Alter, Geschlecht oder bekannten Vorerkrankungen abhängen, sondern von anderen Kriterien – in Deutschland von der Höhe des Einkommens. Der Risikoadjustierung kommt dabei die Funktion zu, die finanzielle Lage der Krankenversicherungen von der gesundheitlichen Risikostruktur der versicherten Population (teilweise) zu entkoppeln:

  • Bei Abwesenheit von risikoäquivalenten Beiträgen oder Risikoadjustierung bestehen Anreize zur Risikoselektion, weil Krankenversicherer versuchen könnten, bei gegebener Beitragshöhe Versicherte mit günstigen Risiken und einem erwarteten positiven Deckungsbeitrag anzuziehen. Dies wird in der ökonomischen Literatur unter dem Begriff „Cream Skimming“ („Rosinenpicken“) beschrieben.
  • In Systemen (wie dem deutschen), in denen Leistungen der (gesetzlichen) Krankenversicherungen weitgehend durch externe Regelungen und Verfahren vorgegeben und Leistungseinschränkungen dadurch begrenzt sind, sind die Möglichkeiten zur direkten Risikoselektion allerdings gering.
  • Hinzu kommt, dass die Möglichkeiten von Krankenversicherungen, überhaupt auf die Versorgung Einfluss zu nehmen, durch rechtliche und politische Rahmen­bedingungen, soziale Faktoren und vor allem medizinische Gegebenheiten beschränkt sind. Dennoch stehen den Krankenkassen grundlegende Informationen über zukünftige oder potenzielle Versicherte zur Verfügung – unter anderem Alter, Geschlecht und Region. Diese können indirekt zur Risikoselektion genutzt werden.

Prospektive und retrospektive Modelle leiten Prognosen über den zukünftigen Ressourcenbedarf ab

Vor diesem Hintergrund besteht in der Wissenschaft ein breiter Konsens, dass in einem wettbewerblichen Krankenversicherungssystem Elemente der Risiko­adjustierung erforderlich sind. Weniger einheitlich sind die Positionen zur Frage, welche Faktoren in eine Risikoadjustierungsformel eingeschlossen werden sollten und wie die entsprechenden Modelle konzeptionell aufgebaut sein sollen. Das betrifft zum Beispiel die Frage, welchen Zeithorizont ein Risiko­adjustierungs­modell haben soll. In der Literatur werden zwei idealtypische Varianten unter­schieden: prospektive und retrospektive Modelle:

  • Prospektive Modelle beziehen nur vorab bekannte Informationen über Versicherte ein, um daraus Prognosen über den zukünftigen Ressourcenbedarf abzuleiten.
  • Dagegen nutzen retrospektive Modelle rückwirkend zur Verfügung stehende Informationen und erklären für eine definierte Periode den Ressourcenverbrauch von Versicherten aus versichertenbezogenen Attributen.
  • Prospektive Modelle berücksichtigen aufgrund ihrer „inneren Mechanik“ dabei eher chronische Faktoren zur Erklärung des (künftigen) Ressourcen­bedarfs.
  • Retrospektive Modelle fußen stärker auf akuten Faktoren. Dies führt dazu, dass die Erklärungsgüte dieser Modelle tendenziell größer ist als die der prospektiven Modelle.

Sofern ein Risikoadjustierungsmodell primär zur Vermeidung von Risikoselektion dienen soll, spricht der Umstand, dass für Risikoselektion und Risikoentmischung nur vorab (bei Versicherten oder Krankenkassen) bekannte Faktoren relevant sind, allerdings für die Nutzung prospektiver Modelle. Prospektive Modelle weisen außerdem den Vorteil auf, dass Anreize zur Effizienz und zur Vermeidung von Missbrauch eher bestehen bleiben. Bei ihrer Anwendung lohnt es sich für Krankenkassen immer noch, zukünftigen Ressourcenbedarf durch Ver­sorgungs- und Kostenmanagement zu begrenzen, während entsprechende Anreize bei retrospektiven Modellen deutlich abgeschwächt werden. Abschließend ist auch die praktische Implementierung von prospektiven Modellen einfacher als von retrospektiven.

Eine weitere entscheidende Frage ist, welche Attribute in ein Risikoadjustierungs­modell aufgenommen werden sollen. Die größte praktische Relevanz haben Modelle erlangt, die – neben demografischen Informationen – Diagnosen und Arzneimittel­informationen berücksichtigen. Erste Vorarbeiten zeigten bereits in den 80er-Jahren, dass durch die Nutzung von Diagnosen (und später noch Arzneimittelinformationen) eine höhere Erklärungsgüte in der Risikoadjustierung erreicht werden kann, als wenn nur demografische Informationen verwendet werden. Der zukünftige Ressourcen­verbrauch von Versicherten kann also mit diesen Merkmalen genauer vorhergesagt werden. In prospektiven Modellen werden dazu Diagnosen aus Vorperioden zur Erklärung von Ausgaben in einem bestimmten Zeitraum herangezogen. Aus der verbesserten Erklärungsgüte gegenüber demografischen Modellen wird abgeleitet, dass Unterdeckungen in bestimmten Versichertengruppen verringert und die damit verbundenen Probleme hinsichtlich Risikoentmischung bzw. -selektion verringert werden können.

Die Nutzung von Diagnosen und Arzneimittelinformationen wirft allerdings Fragen zu Anreizwirkungen auf. Während demografische Faktoren der Versicherten durch die Krankenversicherungen nicht beeinflusst werden können, ist bei Diagnose- und Arzneimittelinformationen eine Beeinflussung grundsätzlich möglich. In der Literatur wurde daher bereits seit den 90er-Jahren darauf hingewiesen, dass diagnose­basierte Modelle Versicherungen bevorzugen können, die ihre Versicherten zur Inanspruchnahme von Leistungen (z. B. Arztbesuchen) animieren oder Wege finden, Ärzte zur vermehrten Dokumentation von Diagnosen (zum sogenannten Upcoding) zu bewegen. Diagnosebasierte Modelle sind also weniger robust gegenüber strategischen Verhaltensweisen und Manipulationen durch Krankenversicherungen. Dies hat in Deutschland zum Beispiel zur Einführung einer Manipulationsbremse geführt.

Fazit

Wie unsere Aufarbeitung zeigt, ist Risikoadjustierung in der Krankenversicherung mit mehreren Zielkonflikten konfrontiert. Neben der Vermeidung unerwünschter Risiko­entmischung und -selektion sind Fragen zur Effizienz und Gerechtigkeit sowie zur Manipulationsanfälligkeit von Interesse. In diesem Spannungsfeld bewegt sich auch die Weiterentwicklung des deutschen morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs.

¹ Risiko-Adjustierung kann entweder bezogen auf einzelne Versorgungs-Episoden angewendet werden oder aber für festgelegte Zeiträume, z.B. Jahre. Für die Nutzung im GKV-Kontext ist die Anwendung für festgelegte Zeiträume relevant.